Ich muss gestehen, ich fühle mich zunehmend unwohl in meiner Rolle als Fahrradfahrer. Dabei nehme ich größtenteils zweirädrig oder dreirädrig, auf jeden Fall aber pedalierend, am Straßenverkehr teil. Unser Familienparkplatz beherbergt meine Fahrradsammlung. Mountainbike und Rennrad werden vergleichweise seltener genutzt, dafür mit längeren Touren, Stadtrad und Trekkingbike häufiger, das Lastenrad wird am meisten gefahren und bewegt neben mir als Fahrer auch Sohnemann zum Kindergarten oder die Einkäufe nach Hause, manchmal beides und parallel. So kommen über das Jahr rund 10.000 Kilometer zusammen. Ich messe nicht nach, aber ein grober Überschlag ergibt eher deutlich mehr. Pro Tag bin ich deutlich länger als eine Stunde unterwegs. 

Hauptverkehrsmittel Fahrrad

Mit dem Auto lege ich viel weniger Strecke zurück. Jedes Jahr ärgere ich mich über die horrenden Kosten, die dieses Vehikel verursacht. Carsharing ist für mich aber keine Option, denn es kommt nicht nur in der Theorie vor, dass ich plötzlich Nachts raus und möglichst schnell zum Einsatzort meines Jobs kommen muss. Mitten in der Nacht will und kann ich nicht auf Suche nach einem Leihwagen gehen, den ich dann für Tage mit explodierenden Kosten in einer anderen Stadt parken muss. Außerdem ist das Auto immer gepackt mit allen Materialien, die ich benötige. Lange Rede, kurzer Sinn: Mein Job verlangt ein eigenes, jederzeit und ohne Einschränkung verfügbares Auto, gepackt mit meinem Material. Leider. Mein Hauptverkehrsmittel bleibt das Fahrrad, in der Stadt bewege ich das Auto praktisch nicht.

Dennoch gibt es Radfahrer, die mir alleine aufgrund des Besitzes eines eigenen Autos meine Radfahrmentalität im Herzen absprechen. Der Trend ist zunehmend. Man sah sich als kompletter Verweigerer des Radfahrens immer schon einem Bashing der Pedalisten ausgesetzt. Dass es jetzt auch die trifft, die beide Verkehrsmittel nutzen, schmerzt mich, nicht nur für mich selbst. Denn meine eigene Reaktion ist Distanz zu dieser radikalen Form der Radfahr-Vertreter, und ich glaube, dass ich damit nicht alleine bin. Das ist kontraproduktiv, weil es sicherlich dem einen oder anderen die Lust am Radfahren vermiest. Dabei ist jede Fahrt, die nicht mit dem Auto zurückgelegt wird, eine gute und wichtige Fahrt.

Fehler passieren, leider

Ebenso wenig Verständnis habe ich für den Trend, Autofahrer massiv anzuzeigen und teilweise zusätzlich an den digitalen Pranger von Facebook oder Twitter zu stellen. Was soll das bringen? Es kühlt natürlich für einen kurzen Augenblick das eigene Gemüt, man hat sich erhoben über die sonst übermächtigen Autofahrer, die sich dank ihrer großen PS-Zahlen und viel Knautschzone gegenüber Radfahrern alles herausnehmen können. Und dann? Es werden weitere Autofahrer nachkommen, die immer noch auf Schutzstreifen parken, beim Abbiegen nicht schauen, sich rücksichtslos verhalten. Und es wird immer die Gruppe „Autofahrer“ gegen die Gruppe „Radfahrer“ geben. Gruppenbildung ist ein tief verwurzeltes Phänomen in uns Menschen. Ein paar Knöllchen, ein paar Abschlepper werden das nicht beseitigen.

Dazu kommen die Autofahrer, die nicht aus Rücksichtslosigkeit gefährden, sondern denen schlicht Fehler unterlaufen. Lossagen kann sich davon keiner. Wenn es dann knallt, wird natürlich die Schuldfrage gestellt. Doch ist die wirklich wichtig, zumindest im ersten Augenblick? Ein Radfahrer ist mit einem Auto zusammengeknallt, die einzige Frage muss lauten: Geht es allen gut? Es ist weder angebracht, als Erstreaktion den Autofahrer zu verurteilen, noch den Fahrradfahrer zu verantworten, für was auch immer. Das gilt für Polizei, Zeugen und die große Zuschauerschaft durch soziale Medien. Verantwortlichkeiten sind wichtig, aber sie sind zweitrangig.

Verständnis füreinander, nicht gegeneinander

Die Wahrheit ist: Wir brauchen mehr Verständnis füreinander, nicht gegeneinander. Warum hat der DHL-Fahrer auf dem Schutzstreifen gehalten? Vielleicht hat er sich noch nie Gedanken dazu gemacht? Vielleicht könnte man ihn einfach freundlich fragen, ob er vielleicht das nächste Mal den Streifen freihalten könnte und einfach ein wenig weiter auf der Straße parkt? Oder der Autofahrer, der mal eben in die Reinigung läuft und dafür auf dem Fahrradweg parkt: Was wird passieren, wenn man ihn anzeigt, ihn beschimpft, ihn an den Pranger stellt? Nichts, zumindest nichts Positives. Er wird sich ärgern, er wird seine Abneigung gegenüber Fahrradfahrern bestärken, in seinem Bekanntenkreis erzählen, was er von Radfahrern hält.

„Du hast ja keine Ahnung vom harten Straßenverkehr als ‚Gelegenheitsradler'“, musste ich mir bereits häufiger anhören. Sicherlich ist es mir nicht auf die Stirn tätowiert, aber ich habe mehrere Jahre als Fahrradkurier gearbeitet. Keine Essens-Lieferunger wie zurzeit überall sichtbar, sondern Dokumente, Medikamente, alles was am besten da sein muss, bevor es abgesendet wurde. Ich kenne die Tücken des Straßenverkehrs, ich weiß um die Einhaltung und Nicht-Einhaltung der Verkehrsregeln und sicherlich habe ich hin und wieder auch den einen oder anderen Autofahrer durch mein Fahrverhalten provoziert. Auf die Spitze habe ich es allerdings nie getrieben, zwei Unfälle sind ohne Beteiligung anderer Verkehrsteilnehmer abgelaufen, ich bin immer im Ganzen nach Hause gekommen.

Critical Mass – schon immer dabei

In dieser Zeit gewann die Critical Mass in meiner damaligen Wohnstadt an Fahrt. Rund 100, vielleicht 200 Teilnehmer, viele Kollegen von mir, trafen sich Freitags und fuhren durch die Stadt. Der Ort wurde erst kurz vorher bekannt gegeben. Dabei lebten wir ein Stück Anarchie, die Polizei versuchte teilweise, uns zu folgen und die Veranstaltung abzuschirmen. Wir nahmen eine Abkürzung durchs Parkhaus, oder wir teilten den Zug spontan und führten ihn später wieder zusammen, Begleitung durch die Rennleitung wollten wir nicht. Straßen wurden für uns nicht gesperrt, wir nahmen einfach am Straßenverkehr teil und formulierten damit den Anspruch an den Straßenverkehr, indem wir ihn demonstrierten. Es war eine tolle Zeit.

Die Veranstaltung wurde größer, sie wurde langsamer. Die überwiegende Anzahl der Teilnehmer war nicht mehr so rad-affin wie „wir“, eine Veranstaltung, die streng genommen keine ist, wurde eine feste Institution im Stadtbild, bis heute. Der friedliche Zug mehrerer tausend Radfahrer löste unterschiedliche Reaktionen aus, besonders bei Autofahrern. Einige waren furchtbar genervt, weil sie bis zu 30 Minuten auf Weiterfahrt warten mussten, aber eigentlich kamen von der überwiegenden Anzahl der Autofahrer positive Rückmeldungen. Freundliches Hupen, Klatschen, Winken und ein Lächeln auf den Lippen. Dafür bekamen sie einen bunten Zug an Radfahrern geboten, teilweise verkleidet, mit geschmückten Rädern. Die Critical Mass stand zu dieser Zeit meist unter einem wechselnden Motto.

Ich vermisste ein wenig die Anarchie auf der Straße, das gebe ich gerne zu. Dennoch freute ich mich über diese Entwicklung, denn ich sah die Critical Mass am Ziel. Sie war eine feste Institution geworden, sie war friedlich und sie war bei vielen Autofahrern akzeptiert. Nicht selten wurden wartende Autofahrer zu Radlern der nächsten Critical Mass. Fahrrad-Wunderland, da warst du endlich. Und ich zog wieder zurück nach Köln.

Auch hier war die Critical Mass bereits angekommen, einige Male fuhr ich mit. Die Fahrt war eher unspektakulär, sie war klein, das Teilnehmerfeld bestand aus einer zweistelligen Zahl an Fahrradfahrern. Ich hoffte ein wenig, in diesem frühen Stadium die Anarchie wiederzufinden, fand sie aber nicht. Die Fahrt war sehr gediegen, wenig provokant. Alles gut soweit, denn die Teilnehmerzahl nahm Monat für Monat zu. Zugegeben, ich war nicht immer dabei, doch liegt meine Wohnung an einer Stelle, an der die Route meist vorbeifährt. So wechselte ich zwischen Teilnehmer und Zuschauer, habe den Anschluss aber nie verloren.

Bis zur letzten Critical Mass, an der ich teilnahm in diesem Sommer. Dieses Mal war nicht mehr zu übersehen, was ich die letzten Monate bereits gespürt hatte: Das Motto „Wir behindern nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr“ verkam zunehmend zur Phrase. Das Auftreten gegenüber Autofahrern war zunehmend aggressiv, immer darauf bedacht, ihnen die Rechtslage um die Ohren zu hauen, statt sie freundlich zum Mitmachen einzuladen. Gegenteilige Berichte kann ich leider nicht bestätigen, auch wenn es mich aufrichtig freut, wenn es Teilnehmer so empfunden haben. Immer wieder sah ich wild diskutierende Autofahrer mit nicht minder wild diskutierenden Radfahrern. Die Stimmung auf beiden Seiten war nicht deeskalierend. Im Gegenteil, viele Radfahrer im Zug freuten sich lautstark und hämisch darüber, wie lange die Autofahrer jetzt warten mussten, die auf die Spitze des Zuges trafen. Einige Male merkte ich an, dass es ja darum gar nicht gehe. Die Blicke der Umfahrenden stempelten mich meist zum Netzbeschmutzer.

Natürlich kann es sein, dass ich einfach Pech hatte bei der Wahl der mich umgebenden Radfahrer. Mit Lastenrad und Sohnemann unterwegs, habe ich darauf verzichtet, die Position groß zu wechseln. Die natürliche Fluktuation der mich Umgebenden brachte auf jeden Fall keine Besserung der Stimmungslage. So wirbt man nicht um Verständnis.

Die Critical Mass spiegelt damit in Köln genau das wieder, was auch im Straßenverkehr zu sehen ist. Es stehen sich zwei Fronten gegenüber, die beide kein wenig von ihrer Position abrücken wollen. Friedliche Co-Existenz verlangt in einem solchen Fall aber mindestens Respekt vor dem jeweils anderen. Diesen Respekt werden Radfahrer aber Autofahrern nicht abringen, wenn sie selbst den Dialog nur über Bashing und Anzeigen suchen. Vor allem nicht, wenn sie sich selbst nicht an Regeln halten. Ich meine damit nicht das Ausweichen vom gefährliche Radweg auf die Straße, sondern den ganz „normalen“ Regelverstoß. Erst gestern stehe ich an einer roten Ampel, als eine ältere Dame mit ihrem Rad erst bei Rot in die Kreuzung einfährt und dann auf den Bürgersteig ausweicht, um hinter der Ampel wieder auf die Straße zu wechseln. Das ist kein Einzelfall, es ist die Regel und gehört zur unbequemen Wahrheit in der Diskussion um den Respekt im Straßenverkehr dazu. Radfahrer verhalten sich im Straßenverkehr nicht selten regelwidrig. Dass die Regeln nicht für Radfahrer gemacht sind und nerven können, dass sie einen „normalen“ Verkehrsfluss kaum zulassen, das ist alles richtig und gehört alles besprochen.

Es wird ein langer Weg sein, die beiden Verkehrsgruppen miteinander zu versöhnen. Einen wichtigen Beitrag dazu könnten die bauen, die beide Welten kennen und regelmäßig bedienen. Autofahrer, die gerne Fahrrad fahren und Fahrradfahrer, die ab und zu Auto fahren. Wenn aber genau denen zunehmend die Gruppenzugehörigkeit zu den Radfahrern abgesprochen wird, kommt der Prozess noch mehr erliegen als er ohnehin schon eingeschlafen ist.

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